Die globale Lage der Chemieindustrie: Herausforderungen und Ausblick
01.03.2024 Chemie Artikel

Die globale Lage der Chemieindustrie: Herausforderungen und Ausblick

Das Lamento Chemieindustrie in Deutschland ist groß: Der Chemieverband VCI beklagt eine schwache Konjunktur, hohe Energiepreise und die überbordende Bürokratie. Doch wie stellt sich die Situation weltweit dar? Wo gibt es Gewinner und Verlierer? Wir blicken zurück auf 2023 und wagen einen Blick in die Zukunft.

Beleuchtetes Raffineriewerk nachts mit Gewitterhimmel und Blitz Die globale Chemieindustrie steht vor großen Herausforderungen. Insbesondere in Deutschland ist die Branche unter großem Anpassungsdruck.

Die chemische Industrie steht weltweit, in Europa, Deutschland und den USA vor einer Reihe von Herausforderungen, die ihre Entwicklung und Zukunftsperspektiven prägen. Die jüngsten Prognosen des europäischen Chemieverbands Cefic und des deutschen Verbandes der Chemischen Industrie (VCI) verdeutlichen, dass die Branche in einer kritischen Phase ist, geprägt von geringem Wachstum, rückläufiger Produktion und schwierigen Marktbedingungen.

In Europa musste die chemische Industrie seit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 einen deutlichen Rückschlag hinnehmen, vor allem in Schlüsselsektoren wie Petrochemie, Polymere in Primärformen und anorganische Grundstoffe. Einer der Hauptgründe dafür ist der Anstieg der Energiepreise nach dem Ausfall russischer Gaslieferungen. Hinzu kommen der Rückgang der Nachfrage nach Gütern infolge der Covid-19-Pandemie, Inflation, sinkende Kaufkraft und eine komplexe Regulierungsagenda. Marco Mensink, Generaldirektor des europäischen Chemieverbands Cefic, weist darauf hin, dass die hohen Energie- und Rohstoffkosten die Wettbewerbsfähigkeit Europas auf den globalen Chemiemärkten beeinträchtigen: „Die Energiekosten sind die Achillesferse der europäischen Chemieindustrie. Keine andere Region der Welt ist davon so betroffen wie unsere.“ Auch deshalb stehen Investitionen in Europa unter großem Druck. Währenddessen wird in anderen Regionen, insbesondere in den USA und der Golfregion, wieder vermehrt investiert.

China, der mit Abstand größte globale Chemieproduzent, spielt als größter Handelspartner der EU27 für chemische Erzeugnisse eine entscheidende Rolle – und die Abhängigkeit Europas von chinesischen Importen steigt weiter. Doch trotz der schwierigen Lage erwartet der europäische Chemieverband für 2024 eine allmähliche Normalisierung der Nachfragestrukturen und einen Anstieg der Kaufkraft, was die private Nachfrage ankurbeln könnte. Dennoch bleiben die Wachstumserwartungen für 2024 begrenzt. Nach Schätzungen des Cefic könnte die Chemieproduktion in Europa in diesem Jahr um 1 Prozent steigen.

Sonderfall Deutschland

Die Situation ist in Deutschland, dem größten Chemiestandort Europas besonders kritisch. Der Chemieverband VCI zeigte sich bei der Vorstellung der Jahresbilanz im Dezember auf ganzer Linie enttäuscht: Ohne Pharmageschäft ist die Chemieproduktion 2023 um 11 Prozent gesunken. Die Auslastung der Produktionskapazitäten lag mit 77 Prozent unterhalb der wirtschaftlich notwendigen Grundauslastung von 82 Prozent. 15 Prozent der rund 1.900 Mitgliedsunternehmen würden bereits rote Zahlen schreiben, berichtet der Verband aus einer Mitgliederumfrage. „Wir befinden uns mitten in einem tiefen, langen Tal. Und noch ist unklar, wie lange wir es durchschreiten müssen“, sagt VCI-Präsident Markus Steilemann.

Auch die Zukunftsaussichten seien nicht vielversprechend, mit Erwartungen an weiterhin rückläufige Umsätze und Produktionszahlen. Die Unternehmen stehen unter Druck durch Umsatzrückgang, sinkende Verkaufspreise und hohe Produktionskosten. Dies hat zu drastischen Maßnahmen geführt, einschließlich der Schließung von Produktionsanlagen und der Verlagerung von Investitionen ins Ausland.

BASF, ein führendes Unternehmen in der deutschen Chemieindustrie, kündigte die Schließung wichtiger Produktionsanlagen im Ludwigshafener Werk an, um den steigenden Kosten, insbesondere den hohen Erdgaspreisen, entgegenzuwirken. Dies spiegelt die allgemeine Tendenz in Deutschland wider, in der die Unternehmen gezwungen sind, ihre Kostenstruktur anzupassen und Investitionen ins Ausland zu verlagern.

USA und der globale Wettbewerb gewinnen

Im Gegensatz dazu weist die chemische Industrie in den USA dank jüngster Gesetzgebungen wie dem Inflation Reduction Act und dem Chips Act eine positivere Entwicklung auf. Der US-Chemieverband ACC rechnete in seiner Prognose vom November 2023 zwar mit einem Rückgang der Produktion um 1,9 Prozent, doch 2024 erwartet der Verband für die US-Chemie wieder ein leichtes Wachstum. Nach Zahlen des ACC ist die Chemieproduktion in 2023 weltweit um 0,3 Prozent gestiegen, 2024 könnte das globale Plus sogar 2,9 Prozent erreichen.

Obwohl auch der US-Verband eine ausufernde Regelungswut der US-Regierung für die Chemikalienproduktion beklagt, scheinen die Mitgliedsunternehmen deutlich optimistischer in die nahe Zukunft zu blicken, als ihre Wettbewerber in Deutschland: Die Unternehmensinvestitionen sind im Jahr 2023 um 4,1 Prozent gestiegen. Für 2024 rechnet der Verband allerdings aufgrund höherer Kreditkosten und erwarteten niedrigeren Verbraucherausgaben mit sinkenden Investitionsausgaben.

Dass die weltweite Chemieproduktion in 2023 trotz schwacher Zahlen aus Europa und den USA überhaupt zulegen konnte, liegt vor allem an der vergleichsweise starken Entwicklung der Produzenten im Asien-Pazifik-Raum, allen voran China: Das Plus lag hier bei satten 3,7 Prozent.

Herausforderungen und Licht am Ende des Tunnels

Insgesamt steht die globale Chemieindustrie vor einer ganzen Reihe an Herausforderungen: Regional unterschiedlich hohe Energie- und Rohstoffkosten, eine aktuell schwache Nachfrage, strengere Regulierung und geopolitische Unsicherheit. Die Industrie in Europa und insbesondere in Deutschland hat es besonders schwer, während die USA dank politischer Unterstützung, kostengünstiger Energie und Rohstoffe (Schiefergas) und einem insgesamt positiven Investitionsumfeld eine stabilere Position einnehmen.

Für die Zukunft zeigt sich ein uneinheitliches Bild: Während in einigen Bereichen wie der Petrochemie Überkapazitäten bestehen, könnten Innovation und technologische Fortschritte neue Wachstumschancen schaffen. Die chemische Industrie in Europa, vor allem in Deutschland, wird sich wahrscheinlich auf Effizienzsteigerungen und die Entwicklung neuer Produkte und Technologien (Spezialchemie) konzentrieren, um den Herausforderungen der Energiewende zu begegnen und die Vorgaben des europäischen Green Deal zu erfüllen. In diesem Zusammenhang wird die Digitalisierung eine entscheidende Rolle spielen. Auch die Umstellung auf nachhaltigere Praktiken und die Betonung der Kreislaufwirtschaft werden wichtige Trends in der chemischen Industrie sein. Diese Entwicklungen könnten dazu beitragen, die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu reduzieren und gleichzeitig neue Marktchancen zu eröffnen.

In den USA wird erwartet, dass die Chemieindustrie weiterhin von den Investitionen in saubere Energie und der Stärkung der heimischen Fertigungsbasis profitieren wird. Die Herausforderungen durch höhere Zinssätze und die weltweite Konjunkturabkühlung werden jedoch auch dort spürbar sein. Global gesehen dürfte sich die Chemieindustrie langfristig erholen, da die weltweite Nachfrage nach Chemikalien insgesamt steigt. Die Branche muss sich jedoch an veränderte geopolitische Szenarien und an die Notwendigkeit einer stärkeren Lokalisierung und Diversifizierung der Lieferketten anpassen.

Der Anpassungsdruck in Deutschland und Europa ist besonders groß – denn an den Wettbewerbsnachteilen durch hohe Energie- und Rohstoffpreise wird sich in naher Zukunft nichts ändern.

Autor

Armin Scheuermann

Armin Scheuermann

Chemieingenieur und freier Fachjournalist