Pharmaindustrie in 2024 vor Herausforderungen und Chancen
01.03.2024 Pharma Artikel

Pharmaindustrie in 2024 vor Herausforderungen und Chancen

Blockbuster oder individuelle Arznei? Die Möglichkeiten für Arzneimittelhersteller erscheinen schier endlos. Doch die erfolgsverwöhnte Branche sieht sich zuletzt einem heftigen Gegenwind aus Wettbewerb, regulativen Eingriffen und grassierenden Kosten gegenüber. Das zwingt viele Hersteller zum Umdenken – und dem Einsatz neuer Technologien und Methoden.

Eine Roboterhand hält eine Spritze Der Einsatz neuer Technologien wird für Arzneimittelhersteller zu einem immer wichtigeren Wettbewerbsfaktor.

Mit dem Wirkstoff Semaglutid gelang Novo Nordisk ein ganz großer Wurf: Das Präparat katapultierte den dänischen Pharmakonzern in 2023 quasi über Nacht an die Spitze der wertvollsten börsennotierten Unternehmen in Europa. Und Novo Nordisk hat den Wachstumsmarkt für Abnehmspritzen bislang fast für sich alleine: Lediglich der amerikanische Wettbewerber Eli Lilly bietet bislang ein Alternativpräparat an. Die Erwartungen der Aktionäre kommen nicht von ungefähr: Analysten der Investmentbank Goldman Sachs schätzen, dass die Umsätze mit Abnehmspritzen bis 2030 von derzeit 6 Milliarden US-Dollar auf 100 Milliarden Dollar wachsen werden. Auch deshalb will Lilly im pfälzischen Alzey ein neues Werk bauen und 2,5 Milliarden Dollar investieren.

Der Hype um die neuen Abnehm-Präparate wirft ein Schlaglicht auf die aktuellen Entwicklungen in der Pharmazeutischen Industrie. Denn nach dem Boom in den Corona-Jahren ist die Branche zuletzt hart gelandet. In 2022 erzielte die Branche in Deutschland noch ein moderates Produktionswachstum von drei Prozent, in 2023 schrumpfte die Produktion der erfolgsverwöhnten Industrie laut Branchenverband vfa um 1,4 Prozent und auch 2024 rechnet der Verband lediglich mit einem Plus von 2,0 Prozent.

Vor allem in Deutschland und Europa machen der Branche die gestiegenen Energiepreise zu schaffen: Im Gegensatz zur Chemieindustrie ist die Energieintensität der Pharmaproduktion zwar unterdurchschnittlich, doch die Hersteller sind auf Vorleistungen aus energieintensiven Industrien angewiesen. Dazu kommen Inflation, hohe Zinssätze, neue Steuergesetze und wachsende politische Risiken.

Preissetzungsmacht führt zum Vertrauensverlust

In den USA, dem wichtigsten Markt für Arzneimittel, droht zusätzliches Ungemach: Als Reaktion steigende Preise hat die Biden-Administration im Zuge des Inflation Reduction Act beschlossen, dass künftig die Preise für einige der am häufigsten verwendeten Medikamente erstmals verhandelbar sein sollen. Nach dem Hype um die Leistungsfähigkeit der Arzneimittelhersteller zur Bekämpfung der Covid-Pandemie war der Absturz jäh: Nicht zuletzt die Diskussion um den Inflation Reduction Act rückte die Hochpreispolitik einiger Originalpräparate-Hersteller negativ ins Rampenlicht. Der Vertrauensverlust führt dazu, dass künftig Entscheidungen der Unternehmen – seien es Preisentscheidungen, Fusionen und Übernahmen, Investitionen in künstliche Intelligenz oder Personalabbau – genau unter die Lupe genommen werden.

Doch es sind nicht nur die steigenden Kosten und der kritischere Blick der Öffentlichkeit, die das Umfeld für Arzneimittelhersteller belasten. Denn der Eindruck durch die Erfolgsmeldungen um Abnehmspritzen täuscht: Der Wettbewerb wird im Pharmamarkt immer schärfer – und das nicht nur bei Blockbuster-Themen wie der Behandlung von Diabetes und Fettleibigkeit. Immer mehr Hersteller forschen deshalb an Präparaten für seltene Krankheiten oder individualisierten Therapieansätzen – und sind bereit, dafür höhere Risiken einzugehen. Vor allem vom Einsatz transformativer Technologien wie künstlicher Intelligenz und digitaler Gesundheit in der biopharmazeutischen Forschung erhoffen sich Arzneimittelhersteller spannende neue Möglichkeiten. Die Fähigkeit, sich diese technologischen Fortschritte zu eigen zu machen, wird zu einem immer wichtigeren Wettbewerbsfaktor.

Künstliche Intelligenz in der gesamten Pharma-Wertschöpfungskette einsetzen

Dabei geht es längst nicht nur um den Einsatz von KI in der Wirkstoffentwicklung. Potenzial liegt in der gesamten pharmazeutischen Wertschöpfungskette – vom Identifizieren aussichtsreicher Wirkstoffe, über die Planung klinischer Studien, dem Verfassen von Dokumenten bis hin zum Marketing und zur Kundengewinnung. Das Marktforschungsunternehmen PwC schätzt, dass Generative Künstliche Intelligenz in mehr als 200 Bereichen der Arzneimittelherstellung einen signifikanten Wertbeitrag liefern kann.

Doch auch an anderen Stellen besteht Handlungsbedarf: Während das Umsatzwachstum vor allem mit Blick auf die „Börsenstory“ nach wie vor wichtig ist, um notwendiges Kapital einzusammeln, rückt auch das Kostenmanagement in den Vordergrund. Ein prominentes aktuelles Beispiel liefert der Bayer-Konzern: Der Pharma- und Agrochemiehersteller will bis Ende 2025 tausende Stellen streichen – vor allem im Management. Konzernchef Bill Anderson setzt dabei auf einen Kulturwandel, in dem Führungskräfte eher als Coach für ihre Mitarbeiter agieren, während die Mitarbeiter mehr Entscheidungskompetenzen erhalten. Aber auch andere Unternehmen der Pharmaindustrie haben zuletzt Sparmaßnahmen angekündigt. Denn der Kostendruck steigt: Hohe Lohnabschlüsse als Folge der Inflation belasten genauso wie teurere Energie und steigende Preise für Vorprodukte. Und letztere sind infolge von Betriebsstillegungen der aktuell noch viel stärker gebeutelten Chemieindustrie immer häufiger nicht mehr vom angestammten Lieferanten erhältlich. Dazu kommt, dass bei vielen Cash-Cows der Arzneimittelhersteller der Patentschutz ausläuft. Allein in 2023 haben Schätzungen des Marktforschungsunternehmens Evaluate Pharma zufolge Arzneimittel mit einem Jahresumsatz von 57 Milliarden US-Dollar ihren Patentschutz verloren. Und auch die erfolgsverwöhnten Hersteller von biopharmazeutischen Arzneimitteln müssen seit 2022 den Gürtel enger schnallen: Die Helden der Covid-Pandemie haben deutlich an Börsenwert verloren und auch gestiegene Zinsen lasten auf der Bereitschaft, Wagniskapital einzusetzen.

Fazit:

2024 dürfte für die globale Pharmaindustrie ein spannendes Jahr werden, das sowohl Chancen als auch Herausforderungen birgt. Die Hersteller müssen sich wie nie zuvor ihr Wettbewerbsumfeld klar machen, Innovation vorantreiben und gleichzeitig die Kosten im Blick behalten. KI und andere neue Technologien werden dabei immer wichtiger, strategische Zusammenschlüsse und Akquisitionen sind ebenfalls probate Mittel im Kampf um eine zukunftsfähige Aufstellung. Denn auch jenseits von Abnehmspritzen – beispielsweise in der Bekämpfung von Krebs und Alzheimer – gibt es lukrative Felder, in denen Arzneimittelhersteller einen Beitrag leisten können.

Autor

Armin Scheuermann

Armin Scheuermann

Chemieingenieur und freier Fachjournalist